Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.
Genesis 2: 8-9, 15-17
[…]
Gott, der Herr, nahm also den Menschen, und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte. Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst Du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen, denn sobald du davon ißt, wirst du sterben.
Und solang du das nicht hast,
Johann Wolfgang von Goethe, »Selige Sehnsucht«
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Die Nacht legte sich über Tokyo-3, eine dunkle, subtile Nachte ohne Brise und mit nur wenigen Geräuschen. Die abendliche Stoßzeit war vorüber, und in diesen Tagen wollte niemand nach dem Abendessen auf der Straße sein. Die Laternen, die ihr Licht auf leere Gebäude warfen, waren fast überflüssig, denn es waren kaum Menschen da, die ihr Licht benötigt hätten. Nur selten fuhr ein Auto leise herum, und alle sieben Minuten fuhr ein Zug in den U-Bahnhöfen von Tokyo-3 ein.
Die Türen des Zugs öffneten sich, und Dr. Akagi Ritsuko trat hinein. Der Waggon war fast leer. Nur wenige brachen die gewohnheitsmäßige Ausgangssperre, die im Geist der Menschen verhängt war: aufsässige Jugendliche, die sich um nichts mehr scherten, Nachtwächter, die Desillusionierten, die auf dem Weg waren, von einer Brücke zu springen um alles zu beenden, und die, deren Geschäfte sich nicht im Tageslicht erledigen ließen. Dr. Akagi gehörte zu dieser letzten Kategorie.
Der Zug eilte voran, hielt und fuhr weiter. Einer nach dem Anderen stiegen die wenigen verbliebenen Fahrgäste aus. Die Gebäude und die Stadt draußen wichen Bäumen und Wiesen. Dr. Akagi blieb sitzen. Ihre Haltestelle kam nach der Endstation, eine Haltestelle von der wenige Menschen wußten, und die noch weniger benutzten. Dr. Akagi fragte sich selbst, warum sie eingewilligt hatte, dorthin zu gehen.
Sie wußte, daß sie die ganze Zeit beobachtet wurde, wenn nicht von jemand im Zug, dann von einer irgendwo versteckten Überwachungskamera. Die alten Männer wollten sie prüfen, um zu sehen ob sie aus freiem Willen kam. Deswegen hatten sie keine »Eskorte« geschickt.
Hör auf, dir was vorzumachen, dachte Dr. Akagi. Es ist für ihn und seine kostbare Rei, und du weißt es. Gib’s zu, es macht dir nicht einmal etwas aus. Doch das tat es. Es war nur ein weiterer Versuch, sich bei ihm einzuschmeicheln, und sie fühlte sich erniedrigt. Gott, wie erniedrigt sie sich fühlte. Was immer ihn glücklich machte, was nötig war, um an seiner Seite zu bleiben, sie würde es tun. Wann würde das alles aufhören? Sie nahm ihre Brille ab, und massierte müde ihre Stirn.
»Warum werfe ich sie nicht einfach weg? Oder gebe sie zumindest jemand Anderem?«
Dr. Akagi sah auf, als sie die Stimme hörte. Heutzutage sah man selten jemand so junges unterwegs um diese Uhrzeit, und der Sprecher zog sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er war ein Junge, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, der ihr gegenüber saß. Er starrte etwas in seinen Händen an und murmelte vor sich hin. Nach seinem staubigen weißen Haar, seiner hellen Haut und seiner gefurchten Stirn zu urteilen schien er nicht der rebellische oder selbstmörderische Typ zu sein.
»Sie wegwerfen… oder jemandem geben! Alles, außer sie selbst zu essen…«
Bei genauerem Hinsehen bemerkte Dr. Akagi, daß er zwei runde Gegenstände hielt, die in braunes Papier gewickelt waren, in jeder Hand einen. Offenbar sprach er von ihnen.
Der Blick des Jungen schnellte nach oben, als ob er ihre Blicke gespürt hätte. Dr. Akagi bemerkte, daß seine Augen rot waren, doch bevor sie sein Gesicht lange betrachten konnte, blinzelte er, und die Unentschlossenheit darin wich einer aufgeregten Klarheit.
»Ja, sie jemandem geben.« wiederholte er laut.
Er richtete seine roten Augen auf Dr. Akagi, der unter seinem prüfendem Blick unangenehm warm wurde. Der Junge ignoierte entweder ihr Unbehagen, oder er bemerkte es tatsächlich nicht. Sie rutschte auf ihrem Sitz herum und zupfte nervös an ihrem Kragen und bemerkte unwillkürlich daß sein Haar, das einen zottigen Busch auf seinem Haupt bildete, seit Tagen keinen Kamm gesehen hatte, während seine Schuluniform, bestehend aus einem einfachen weißen Hemd und schwarzen Hosen, tadellos sauber und gebügelt war.
»Sie jemandem geben… sie jemandem geben…« Inzwischen wiederholte der Junge die Worte wie ein Mantra.
Dr. Akagi räusperte sich laut. »Ahem, Entschuldigung?«
Der Junge wurde aus seiner Benommenheit gerissen.
»Oh, tut mir leid.« sagte er hastig. »Mir war nicht bewußt, daß ich Sie angestarrt habe. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Ich habe nur versucht zu erraten, was Sie sind.«
»Wie bitte?«
»Was Sie sind… was ihr Beruf ist. Lassen Sie mich raten… sind Sie Apothekerin?«
»Und was geht dich das an?« erwiederte sie, leicht verärgert.
Er überhörte die Verärgerung. »Warten Sie! Ich habe mich geirrt… lassen Sie mich ein wenig länger nachdenken…«
Er starrte sie wieder an. Seinen scharfen roten Augen entging nichts, und Dr. Akagi wurde nervös. Auf einmal wurden ihr die Laufmasche in ihre Strumpfhose, ihre zerknitterte blaue Bluse, die dunklen Haarwurzeln und die Falten um ihre Augen nach einem langen Arbeitstag schmerzhaft bewußt. Mit jeder Sekunde die verging wurde ihr die Situation peinlicher. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.
»Bist Du noch nicht fertig?«
»Ich hab’s!« rief der Junge. »Sie sind Ärztin, nicht wahr? Oder… Wissenschaftlerin?«
Dr. Akagi kaute auf ihrer Lippe. »…Ja. Ich bin Wissenschaftlerin.«
»Ah! Ich wußte es!« Der Junge klatschte mit einer aufgeregten Überschwenglichkeit in die Hände, die Dr. Akagi einem Teenager unangemessen erschien. Als hätte er das gespürt, beruhigte er sich sofort. »Es tut mir leid. Ich muß Ihnen furchtbar unhöflich erscheinen.«
Der Junge stand auf, lief hinüber zu Dr. Akagi, und setzte sich ohne zu zögern neben sie. Er musterte sie ernsthaft, ignoierte ihr Unbehagen, und begann, »Sie sind eine Wissenschaftlerin… eine Forscherin, jemand der die Natur erforscht und Erklärungen für die Funktionsweise des Universums findet. Wissen! Jeden Tag suchen Sie Antworten und Wissen. Habe ich recht?«
»Nun…« Der Junge hatte ihre Arbeit aus einer völlig anderen Perspektive beschrieben, einer Perspektive, die Dr. Akagi selbst nie in Betracht gezogen hatte. »Ich schätze, man könnte es so ausdrücken.« sagte sie zögerlich.
»Dann gestatten Sie mir die Frage… als Wissenschaftlerin und als Mensch, was würden Sie sagen, was ihr Ziel bei der Suche nach all diesem Wissen ist?«
»Nun… das weiß ich nicht.« erwiederte Dr. Akagi freimütig.
»Das ist in Ordnung, nehmen sie sich ruhig Zeit, um darüber nachzudenken.« ermunterte sie der Junge.
»Um uns das Leben zu erleichtern, nehme ich an.« improvisierte sie. Andernfalls würden wir alle sterben, wenn NERV nichts tun würde, dachte sie bei sich selbst. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Oder, um es anders auszudrücken, um uns ein längeres Leben zu ermöglichen.«
»Perfekt.« sagte der Junge. »Sie haben gerade den Sinn des Lebens auf der Erde zusammengefaßt: Wissen zu finden, und das Leben zu verlängern. Nun denn, stellen Sie sich bitte vor, es gäbe etwas das Ihnen unendliches Wissen, und etwas, das Ihnen ewiges Leben geben könnte.«
»Gibt es so etwas?« Dr. Akagi lachte. »Wenn es nur so wäre! Das Leben wäre dann so viel einfacher.«
»Ah!« seufze der Junge mit einer sich plötzlich verändernden Stimme. »Aber es ist so…«
Dr. Akagi sah ihn an, aufgeschreckt durch die gewaltige Änderung in seinem Tonfall.
»Sie haben vom Garten Eden gehört?« fragte er. »Nachdem er in der Mitte des Gartens den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens gesetzt hatte, verbot Gott es Adam und Eva ganz ausdrücklich, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. Doch Adam und Eva gaben der Versuchung schließlich nach, und voller Wut verbannte Er sie für immer aus dem Paradies.«
Als Dr. Akagi zustimmend nickte, fuhr der Junge fort. »Nach ihrer Verbannung wandte sich Adam um, um einen letzten Blick auf Eden zu werfen. Den halbgegessenen Apfel der Erkenntnis noch in seiner Hand haltend, schüttelte er voller Bitterkeit den Kopf und bemerkte, daß Eva etwas hinter ihrem Rücken verbarg. In ihren Händen hielt sie einen bronzenen Apfel: eine Frucht vom Baum des Lebens. Als Adam sie darauf ansprach, erklärte sie ‚Ich wollte ein letztes Geschenk aus Eden, und so habe ich den Apfel genommen, als Er uns den Rücken zukehrte.’«
»’Haben wir nicht genug gesündigt, daß wir nun noch einmal sündigen müssen?!‘ Adam war angewiedert. Er riß Eva den Apfel aus der Hand, und mit einem letzten Blick auf den goldenen Apfel in seiner eigenen Hand schleuderte er beide so weit fort, wie er konnte.
»Als die Äpfel den Boden berührten, verschlang sie die Erde. An ihrer Stelle sprossen zwei große Bäume, gleich denen in der Mitte Edens. Sofort erschienen eine Mauer aus Feuer und mit mit Schwertern bewaffnete Engel, um diese Bäume bis zum Ende der Zeit zu bewachen.«
Vorsichtig wickelte der Junge das Papier auf, das die Objekte in seinen Händen umgab, und hielt sie hoch.
»Sehen sie sie sich an.« sagte er, und zeigte ihr die wunderbar reifen, schönen Früchte.
»Äpfel?« fragte Dr. Akagi erstaunt. »Willst Du etwa behaupten, daß-«
»Äpfel…« seufzte der Junge. »Aber keine gewöhnlichen Äpfel.« Er lachte laut auf. »Gefallen sie Ihnen? Ich geben sie Ihnen, wenn Sie sie wollen. Dies sind die Früchte des unendlichen Wissens und des ewigen Lebens, von den Bäumen aus dem Garten Eden! Ein Biß von jedem der beiden, und Sie werden ewig leben und alles in diesem Universum wissen!«
Eine unbehagliche Pause entstand.
»Wirklich?« fragte Dr. Akagi. Aus irgend einem unerklärlichen Grund beunruhigte es sie, daß der Junge die Früchte der Erkenntnis und des ewigen Lebens erwähnt hatte. Sie war sich nicht sicher, wie sie reagieren sollte. Wäre der Junge älter gewesen, etwa zwanzig oder dreißig, dann hätte sie ihn als gelangweilten, zugekifften Mistkerl eingestuft, und wenn es ein älterer Mann gewesen wäre, dann hätte sie ihn für verrückt gehalten und den Waggon gewechselt. Aber der Junge war nur ein Teenager, und er schien nicht betrunken oder verrückt zu sein. War er dann vielleicht ein Spaßvogel, der gerne Frauen ohne Begleitung Streiche spielte?
»Nun… wie funktionieren sie?« fragte Dr. Akagi schließlich.
»Wie sie funktionieren?« wiederholte der Junge ungläubig.
»Ich meine, wie geben sie einem ewiges Leben und unendliches Wissen?«
»Aber… Indem man sie ißt, natürlich.«
»Aber dann kann nichts besonderes daran sein. Adam und Eva, so wissen wir, hatten bereits vom Baum der Erkenntnis gegessen, und dieses Wissen an uns weitergegeben, also kann es keinen Unterschied machen, wenn-«
»Adam und Eva gaben lediglich ihre Sünde an uns weiter, nicht ihr Wissen.« erklärte der Junge. »Aber diesen Apfel zu essen, würde Ihnen Wissen geben, echtes Wissen! Alles, was dunkel und unklar ist würde hell und offensichtlich werden. Sie würden alles durchschauen, alles verstehen, jede versteckte Bedeutung-«
»Und wo hast Du sie her?« unterbrach ihn Dr. Akagi.
»Was?«
»Deine Äpfel, natürlich. Ich meine, Du mußt sie irgendwo her haben. Äpfel wie diese wachsen nicht auf Bäumen, weißt du!«
»Nu-un…« Der Junge zögerte. »Vor drei Monaten rettete ich einem Mann das Leben, und er gab sie mit.« Sein Gesicht wurde nun ziemlich rot. Wenn das nicht ein Zeichen für Schuldgefühle war, so kannte Dr. Akagi jedenfalls kein besseres. Die Warnglocken, die in ihr geläutet hatten, verstummten.
»Na und? Der Mann könnte glogen haben! Woher weißt Du, daß die Äpfel wirklich das sind, was Du behauptest?« forschte sie nach.
»Niemand, der ihm zugehört hat, könnte seine Geschichte anzweifeln.« beharrte der Junge. »Wenn Sie ihn gesehen hätten… Er war ein alter Mann. Er sagte, daß er die Kräfte, die die Äpfel verleien, nicht gebrauchen könne, und daß er hoffe, ich hätte eine bessere Verwendung für sie.«
»Er sagte mir, daß er schon weit gereist sei, durch China, Indien, Deutschland, Afrika… sein ganzes Leben sei eine einzige lange Reise gewesen, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Und schließlich führte ihn sein Weg nach Armenien, ins älteste Land der Welt. Er sagte, daß Noahs Arche noch dort sei, irgendwo in den Bergen, und daß er vielleicht die Überreste Edens finden würde, wenn er Glück hätte. Tagelang war er dem Oberlauf des Tigris gefolgt, ohne Erfolg.«
Armenien, überlegte Dr. Akagi. Irgendwo im mittleren Osten… zwischen Türkei und Iran?
»Schon bald gingen ihm Essen und Wasser aus.« fuhr der Junge fort, »Geld hatte er auch keins mehr. Um die Lage noch zu verschlimmern, zog ein großer Sturm auf, und im Regen und der Dunkelheit verirrte er sich. Als der Himmel sich schließlich etwas aufklärte, so daß er etwas sehen konnte, fand er sich auf einem hohen Berg wieder, dorniges Gebüsch vor sich, einen steilen Abhang hinter sich. Er hatte so völlig die Orientierung verloren, daß er hinaufgekletter war, ohne es zu bemerkten. Und er wußte nicht, wie er wieder hinunter gelangen sollte: Den Hang zu versuchen wäre Selbstmord.«
»So konnte er nur weitergehen und versuchen, einen anderen Weg nach unten zu finden. Er war ausgehungert und am Verdursten, nach mehr als drei Tagen ohne Essen und Wasser. Er war dem Delirium nahe und hatte Halluzinationen. Seine letzten klaren Gedanken verließen ihn, und er verlor jegliches Gefühl für Zeit. Alles, was er tun konnte, war weiter zu trotten, ohne zu wissen, wohin er ging oder gehen konnte.«
»Nachdem er Gott weiß wie lange durchs Nichts gestolpert war, hatte er eine seltsame Erfahrung. Wie ich schon sagte war er inzwischen im Delirium. Er konnte nicht sicher sein, ob es wirklich geschehen war, oder nicht. Andererseits sind da die Äpfel als Beweis.«
Der Junge pausierte, um Atem zu holen. Das sanfte Rattern des Zuges wurde besser hörbar.
»Ja?« fragte Dr. Akagi. »Was geschah dann?«
»Er kroch auf Händen und Füßen voran. Alles war dunkel, und er konnte nicht klar sehen. Alles an was er denken konnte, war sein bevorstehener Tod. Dann erblickte er in der Dunkelheit plötzlich ein sanftes Glühen. Wie eine Motte, die vom Licht angezogen wird, kroch er mit der letzten ihm verbleibenden Kraft darauf zu. Als er näher kam, sah er daß das Glühen von zwei Apfelbäumen ausging.«
»Selbst in seinem verwirrten Zustand erinnerte er sich wieder an all die Legenden um die Bäume des Lebens und der Erkenntnis. Der Gedanke machte ihn fast trunken. Unendliches Wissen und ewiges Leben leuchteten vor seinen Augen! Es war genug, um selbst den bedachtesten Menschen den Kopf verlieren zu lassen. Ohne nachzudenken hievte er sich auf die Füße und griff sich einen bronzenen Apfel vom nächsten Baum. Dann hörte er ein schmerzvolles Aufheulen, und eine eisige Hand umklammerte sein Herz, denn er wußte, was das Heulen bedeutete. Bevor sein Mut aussetzen konnte, stolperte er wie besessen zu dem anderen Baum und riß einen goldenen Apfel von den Zweigen…«
Das unbehagliche Gefühl kehrte zu Dr. Akagi zurück. Was an dieser Geschichte machte ihr solche Sorgen?
»Plötzlich war da eine Lichtblitz, heller als alles, was er je in seinem Leben gesehen hatte, und der Mann wurde zurückgeschleudert. Lautes, furchtbares Wutgebrüll ertönte hinter ihm, vor ihm, überall um ihn herum. Er erstarrte vor Angst. Die Angst rettete ihn, belebte ihn auf eine Weise, wie es Essen niemals gekonnt hätte. Durch reines Entsetzen angetrieben begannen seine Beine wieder zu funktionieren, und er rannte mit ganzer Kraft. Er fühlte, eher als daß er sie sah, die Wände aus Flammen, die versuchten, ihn zu umzingeln und einzuschließen.«
»Schließlich wurde er an die Kante eines Abhangs getrieben. Es gab keinen anderen Weg als nach Vorne. Also sprang er, rollte und fiel den felsigen Hang hinunter. Als er wieder zu Bewußtsein kam, lag er mit Schrammen und blauen Flecken in einem Busch. Aber er war am Leben. Und er hielt die beiden Äpfel fest in seinen Händen.«
»Das geschah schon vor Jahrzehnten. Er behielt diese Äpfel für viele Jahre, unsicher was er damit tun sollte, ob er sie essen oder wegwerfen sollte. Bis er mich traf.«
Der Junge zögerte nervös. »Ich glaube nicht, daß es daran lag, daß ich ihm das Leben rettete, daß er sie mir gab, sondern daran, wie ich es tat…«
Er sah sich schnell um, um zu sehen, ob noch jemand in der Nähe war, eine unnötige Geste, da sie inzwischen die einzigen im Zug verbliebenen Passagiere waren. Mit dem Ergebnis zufrieden, zeigte er auf einen der Äpfel, und dieser stieg langsam in die Höhe, schwebe über seinem Schoß. Dann zog der Junge seine Hand zurück, und der Apfel fiel wieder herunter.
»Sehen sie?« fragte der Junge Dr. Akagi, die ihren Augen nicht traute. »Ich habe telekinetische Kräfte. Und mit diesen Kräften habe ich jenen alten Mann gerettet, indem ich ihn grade rechtzeitig aus der Gefah holte. ‚Mit unendlichem Wissen, ewigem Leben und deinen Kräften wärst Du unbesiegbar!‘ sagte er mir. Und so gab er mir diese Äpfel. Dafür versprach ich ihm, auch für ihn zu arbeiten und meine Kräfte zu seinem Nutzen einzusetzen. Ich gab ihm mein Wort, daß ich mich innerhalb von drei Monaten entscheiden würde, und ihn dann sofort informieren würde.«
Bislang hatte Dr. Akagi geglaubt, jedes Ereignis ruhig und objektiv beobachten zu können, egal wie bizarr es war. Nun fiel es ihr schwer, zu sprechen.
»Er vertraute Dir?« krächzte sie. Es war recht überraschend, was für dumme Fragen man im Schock stellte.
Der Junge hob den Blick, um sie anzusehen. »Warum sollte er nicht? Ich gab ihm mein Wort.«
»Aber… trotz Deiner Kräfte… Woher weißt Du… woher weißt Du, daß das, was der alte Mann Dir gesagt hat, wahr war?« stammelte sie. »Glaubst Du wirklich, daß diese Äpfel-«
»Sehen Sie sie sich an.« forderte der Junge sie auf. »Ich habe sie seit drei Monaten. Sie sind so frisch und reif wie sie waren, als ich sie zum Ersten Mal sah. Sie sind nicht vertrocknet oder verfault.«
Sie waren anders als alle Früchte, die sie jemals zuvor gesehen hatte. Ein Apfel hatte eine helle, goldene Farbe. Der andere glänzte wie poliertes Kupfer. Beide strahlten ein intensives metallenes Licht aus. Als sie wie gebannt näher hinsah, konnte sie Flammenwände und große Engel mit Schwertern sehen, die beharrlich Wache hielten über zwei wunderchöne Bäume. Sie konnte fast die Flammenzungen über ihre Augen streichen spüren. Hastig rieb sie sich die Augen.
»Glauben Sie mir nun?« fragte der Junge. »Sie sehen, wie sich die Wahrheit in ihnen spiegelt, nicht?« Als Dr. Akagi nicht antwortete, fuhr er fort. »Deswegen muß ich mit Ihnen sprechen. Sie müssen mir helfen, eine Entscheidung zu treffen. Seit drei Monaten habe ich diese Äpfel, und jedes Mal, wenn ich sie halte, zittern meine Hände! Ich-«
»Was für eine Entscheidung?« krächzte Dr. Akagi. Die Aufregung über diese fantastische Entdeckung ließ sie die Unruhe vergessen, die vorher an ihr genagt hatte. »Bei welcher Entscheidung soll ich Dir helfen? Was gibt es denn zu entscheiden? Warum ißt Du sie nicht einfach? Wie kann jemand zögern-«
»Meine telekinetischen Kräfte haben mich zu einem etwas anderen Standpunkt gegenüber der Welt geführt. Ich habe zu viel gesehen. Ich habe sogar noch mehr erfahren. Der Gedanke, ewig zu leben, mag jetzt gerade großartig erscheinen, aber wird das auch noch in achtzig Jahren so sein, wenn jeder, den man kennt, der einem etwas bedeutet, alt ist und stirbt, und alles was man tun kann ist dabei zuzusehen?«
»In einem längeren Leben könnte man mehr erreichen, so viel mehr! Denk daran, was man alles tun könnte, wenn man so viel länger zu leben hätte.«
»Noch schlimmer ist die Aussicht, alles zu wissen, was es zu wissen gibt.« fuhr der Junge fort. »So viel zu wissen, daß nichts mehr vor einem verborgen werden könnte. Alles was unsichtbar sein sollte, wäre einem bekannt.«
»Das wäre doch eher ein Vorteil, oder etwa nicht?«
»Man würde Schwarz und Weiß und alle Schattierungen dazwischen sehen. Man könnte direkt in die Herzen aller Menschen sehen und wissen, was für furchtbare und böse Dinge sie denken, selbst jene, die man liebt, die einem wichtig sind.«
»Man könnte also erkenen, wer einen täuscht.«
»Wäre das denn gut? Was, wenn derjeige, der einen getäuscht hat, derjenige ist, den man liebt? Und was, wenn man sich selbst und seine eigenen Fehler sehen würde? Die grausame, bittere Wahrheit über sich selbst, der man nicht mehr ausweichen könnte?« fragte der Junge. »Ich habe sehr oft darüber nachgedacht, und ich kann zu keiner Entscheidung gelangen. Ich habe diese Diskussion schon so oft mit mir selbst geführt, und nie kann ich mich entscheiden…«
»Du scheinst Dich schon entschieden zu haben.« stellte Dr. Akagi fest. »Warum fragst Du mich noch? Du kannst sie einfach wegwerfen, wenn sie Dir solche Angst machen.«
Der Junge sah sie an. »Aber Sie verstehen nicht. Wie könnte man so etwas außergewöhnliches wegwerfen? Es wäre… ein Sakrileg. Irgendwie. Ich weiß nicht. Aber diese Äpfel… sie sind einfach zu erstaunlich um sie wegzuwerfen.«
»Was wlilst Du dann von mir?«
»Ich… ich weiß nicht. Daß Sie mir sagen, was ich tun soll, mich auf den rechten Weg führen. Ich muß mich auf Ihre Erfahrung, ihr professionelles Urteil verlassen. Was würen sie mir – als Wissenschaftlerin – raten?«
Sie mußte nicht lange darüber nachdenken. »Wenn ich Du wäre, würde ich sie essen.« erklärte sie sachlich.
Einen Moment lang herrschte Stille.
»Das würden Sie?« fragte er, recht verwundert.
»Warum nicht? Jeder spricht darüber, was er tun würde, wenn er ewig leben oder alles wissen könnte, aber ich glaube nicht, daß die Meisten wirklich darüber nachgedacht haben. Alles zu wissen sei eine furchtbare Last, heißt es. Ewig zu leben, und zuzusehen wie alle anderen sterben ist schlimmer, als selbst zu sterben, heißt es. Doch haben diese Leute darüber nachgedacht, was für gute Taten sie vollbringen könnten? Für die Menscheit, für die ganze Welt. Mit dem Wissen über Alles und der Fähigkeit, ewig zu leben, könnte ein Mensch der ganze Menschheit auch unendlich helfen, er wüßte was gute Auswirkungen hätte, und was schädlich wäre.«
»Doch was, wenn dieser Mensch böse wäre, böse durch und durch?« fragte der Junge. »Er würde sein Wissen zu seinem eigenen Nutzen verwenden, nicht für Andere… vielleicht sogar zur Vernichtung der Menschheit!«
»Nun, das hängt dann völlig von der Person ab, die die Äpfel ißt.« sagte Dr. Akagi. »Ich kann für mich selbst nicht garantieren – und ich bin nicht gut darin, Menschen zu beurteilen – aber Du scheinst mir kein selbstsüchtiger oder unehrlicher Mensch zu sein. Und mit Deinen besonderen Kräften… ich glaube nicht, daß ich jemanden nennen könnte, der besser geeignet wäre, die Äpfel-«
Und genau in diesem Moment fiel ihr jemand ein.
»Vielleicht bin ich jetzt ein guter Mensch. Aber was ist in zehn Jahren, in fünfzig Jahren? Kann irgendjemand sicherstellen, daß ich mich nicht zum Schlechten ändere?«
Dr. Akagi schwieg, in Gedanken versunken.
»Können Sie das?« fragte der Junge.
»Die Ewigkeit ist eine lange Zeit.« stellte Dr. Akagi fest, und schüttelte die Gedanken ab. »Kein Mensch auf Erden kann sehr lange völlig gut oder völlig schlecht sein, denn Menschen ändern sich. Das liegt in der Natur des Menschen. Selbst wenn ein Mensch absolut böse ist, so kann man nie sicher sein, daß er nicht irgendwann wieder gut wird. Dasselbe gilt für einen guten Menschen – er kann irgendwann dem Teufel verfallen. Denk aber daran, was man erreichen kann, solange man gut ist! Und was man tut, solange man böse ist schadet der Menschheit vielleicht auch nicht. Was sich nicht ändert, und was wirklich wichtig ist, ist gutes Urteilsvermögen, denke ich… und ich bin mir sicher, daß es Dir daran nicht fehlt.«
Der Junge kaute auf seiner Unterlippe herum.
»Aber wenn Du Dich nicht entscheiden kannst…« sagte Dr. Akagi, »Wenn Du noch immer zweifelst…«
Der Junge sah sie an. »Ja?« fragte er begierig, »Ja?«
Dr. Akagi machte eine Pause. »Dann solltest Du die Äpfel jemandem geben, der der Menschheit auch etwas Gutes tun kann. Jemand mit gutem Urteilsvermögen der willens wäre, sie zu essen, nicht für sich selbst, sondern für die ganze Menschheit. Jemand, der Entscheidungen treffen kann, und der sie gebrauchen kann.«
»Sie kennen so jemanden?« fragte der Junge besorgt. »Würde er sie zum Guten verwenden?«
Dr. Akagi zögerte. »Ich bin mir sicher. Andererseits…« sie stockte. die Unsicherheit war wieder da und nagte an ihr.
»Und Sie?« beharrte der Junge, »Sie würden sie essen, nicht wahr?«
»Wenn ich Du wäre, dann würde ich sie essen.« wiederholte sie unsicher. »Aber ich bin nicht Du. Ich habe nicht Deine Voraussicht. Ich würde in fast jeder Situation anders reagieren als Du. Wenn ich sie essen würde, würde das der Menschheit sicherlich schaden, mehr als es nützen würde.«
»Sie sind bescheiden.« stellte der Junge lächelnd fest.
Dr. Akagi wandte ihren Blick ab.
»Danke für Ihre Ratschläge.« sagte der Junge. »Ich denke.. ich habe meine Entscheidung getroffen.« Er rieb mit einem Finger an einem der Äpfel herum. »Welchen, denken Sie, soll ich zuerst essen?«
Also würde er es wirklich tun, dachte sie. Dr. Akagi bereute, was sie ihm gesagt hatte. Es war zu gefährlich! Was würde passieren, wenn… Zu ihrem Entsetzen hörte sie sich slebst sprechen, »Die Frucht der Erkenntnis.«
Der Junge grinste. »Das hatte ich mir auch schon überlegt. Auf diese Weise weiß ich, ob es gefährlich ist, die andere Frucht zu essen.« Dr Akagi starrte ihn an, als er den goldenen Apfel lässig an seinen Mund führte und hineinbiß.
Plötzlich war es sehr leise in dem Zug. Physisch schien sich nichts geändert zu haben, doch die Atmosphäre war plötzlich bedrückend. Dr. Akagi wagte nicht, zu atmen.
Dann sah der Junge auf, und sie konnte sofort den Unterschied spüren. Dieser lag in seinem Gesichtsausdruck, seiner Haltung, seinem Charakter. Die roten Augen waren nicht länger rund und eifrig, sondern halb geschlossen und schwer; die Mundwinkel waren nun nach unten gezogen, seine Schultern gebückt. Der angebissene Apfel lag in seiner schlaffen Hand. Als er sprach, war seine Stimme schwer und stumpf.
»Ich denke… ich werde den anderen Apfel für später aufheben.«
Dr. Akagi bemerkte, wie ein Muskel in seinem Augenwinkel zuckte. »Bist Du in Ordnung?« fragte sie.
Der Junge richtete seine roten Augen auf sie. Plötzlich fühlte sich Dr. Akagi extrem verletzlich und nackt. Der Drang, ihn zu fragen, wie es war, wie er sich fühlte, und ob er wußte, was sie dachte, war verschwunden. Sie wollte nichts mehr als hier herauskommen.
»Es geht mir gut, danke.« fing er an, und verstummte.
In diesem Moment fühlten sie, wie der Zug langsamer wurde und anhielt. Die Türen öffneten sich mit einem lauten Zischen.
Dr. Akagi sah sich unruhig um. »Das ist die Endstation.« erklärte sie. »Du… solltest jetzt aussteigen.
Der Junge sah sich ebenfalls um. »Ich weiß. Aber ich habe das gleiche Ziel wie Sie. Die nächste Haltestelle.«
»Du wirst… das Kommittee treffen?« fragte Dr. Akagi langsam, als sie verstand.
»Ja.« gab der Junge zu. »Wie ich sehe… ist das auch Ihr Ziel.» Er legte den Kopf schief, wie um sie in einem anderen Licht zu sehen.
Es gab nichts mehr zu sagen. Sie saßen in Stille, während die Zugtüren sich wieder schlossen und der Zug begann, seinem Ziel entgegenzukriechen. Er brummte und knirschte, und der Lärm war eine wilkommene Ablenkung für Dr. Akagi, Sie sah aus dem Fenster, als sie in einen Tunnel einfuhren. Sie konnte ihr Spiegelbild im Fenster sehen.
»Was siehst Du?« rief sie plötzlich voller Frustration. »Was siehst Du?«
Der Junge betrachtete seine Hände. »Viele Dinge.«
»Was für Dinge?« beharrte sie.
»Schmerzhafte Dinge. Komplizierte Dinge. Dinge über mich selbst, die ich lieber nie erfahren hätte. Dinge über diese Welt, die ich nicht wissen will.«
Leise fragte Dr. Akagi, »Wie fühlst Du dich?«
»Meine Augen bluten. Sie haben so viel gesehen, und sie müssen bluten.« Er seufzte leise, so daß sie ihn kaum hören konnte. »Die Menschheit ist armselig, und zu bemitleiden. In was für einer traurigen Welt wir doch leben.«
Nach einer Weile hob der Junge seinen Blick von der bronzenen Frucht. »Wir sind fast da.« sagte er ihr.
»Ich weiß.«
»Ich dachte nur, daß Sie es vielleicht wissen wollten.« erklärte er leise. Wenn ich nur den Schmerz lindern könne, würde ich es tun, dachte er bei sich selbst.
Der Zug kam qietschend zu stehen. Der Junge und Dr. Akagi standen auf und verließen den Waggon. Für einen Augenblick standen sie schweigend auf dem Bahnsteig. Es war kein Ausgang in Sicht.
»Mein Name ist übrigens Nagisa Kaworu.« sagte der Junge. »Es hat mich gefreut, Sie zu treffen.« Er streckte eine Hand aus. Nach einer Weile ergriff Dr. Akagi sie und schüttelte sie.
»Es war mir auch eine Freude. Ich bin Dr. Akagi Ritsuko.«
»Ich weiß.«
Dr. Akagi sah ihn überrascht an. »Oh ja… natürlich weißt Du das.«
Das Geischt des Jungen verzog sich zu einem Lächeln, doch seine Augen waren traurig. »Viel Glück.«
Zwei Männer. traten aus dem Schatten hervor. »Dr. Akagi.« begrüßte sie einer der beiden. »Schön, daß sie gekommen sind. Das Kommittee erwartet Sie.« Er wandte sich dem Jungen zu. »Du bist früh dran, Nagisa.«
»Ich kann warten.« antwortete der Junge.
»Viel Glück.« wünschte er Dr. Akagi noch einmal, als der zweite Mann sie wegführte.
Dr. Akagi stand nackt vor dem Kommittee. Sie versuchte, auf alles zu achten, außer auf ihre Nacktheit und die Klimaanlage.
Was zum Teufel tue ich hier?
»Wir hoffen, das dies schnell vorüber ist. Wir wollen Sie nicht beschämen.«
Wie fühlst Du Dich, hatte sie den Jungen gefragt. Sie mußte sich selbst die gleiche Frage stellen.
Doch »Ich fühle keine Scham.« war ihre Antwort an SEELE-01.
Sich und alle seine Fehler zu sehen. All diese grausamen, bitteren Wahrheiten, die man nicht verbergen konnte.
»In der Tat, eine willensstarke Frau. Es ist typisch für Ikari, daß er sie in seiner Nähe behält.«
»Und doch war es Ikari selbst, der Sie zu uns sandte.«
Entblößt, nicht mehr fähig, sich zu verstecken.
»Er weigerte sich, die Pilotin von EVA-00 befragen zu lassen. Er schlug Sie als Ersatz vor.«
Es brauchte keinen Apfel der Erkenntnis, um darauf zu kommen, nicht wahr, liebe Frau Doktor?
Als sie ging, war sie ängstlich, nervös und unsicher.
Nach dem Kreuzverhör Dr. Akagis war der Junge an der Reihe, den Platz in der Mitte des großen Raumes einzunehmen. Einen nach dem Anderen betrachtete er die dunklen Bildschirme mit den Worten ’sound only‘ auf jedem davon, bis seine Augen auf denjenigen mit der roten Aufschrift ‚SEELE-01‘ fielen.
»Du hast eine Antwort für mich, Junge?« fragte SEELE-01.
Der Junge klang wütend. »Sie kannten meine Antwort von Anfang an.«
SEELE-01 lachte leise. »Du bist schlau. Natürlich weißt Du nun alles, nicht wahr?«
»Was mache ich hier?« sagte der Junge.
»Sag Du es mir. Du weißt es schließlich.«
Der Junge war ruhig.
»Wenn Du nicht redest, dann werde ich es tun. Hmm… wo fange ich an? Laß mich Dich zuerst fragen, ob Du weißt, was mit einem Menschen passiert, der sowohl vom Baum der Erkenntnis, als auch vom Baum des Lebens ißt?«
»Ja, das weiß ich.« erwiederte der Junge.
»Er wird, unabhängig von den Geschenken des unendlichen Wissens und des ewigen Lebens, zu einem mächtigen Wesen des Lichts. Fast auf einer Ebene wie Gott selbst!«
Der Junge sprach langsam und bedächtig. »Ich weiß.«
»Natürlich sind Wissen und Leben alles, was man von den Äpfeln bekommen kann. Die, äh, besonderen Fähigkeiten oder tatsächlichen Kräfte die solch ein Wesen hat – die ein Engel hat -« er betonte das Wort Engel, fast als ob er das kurze Zucken im Gesicht des Jungen genoß – »Diese Kräfte eines Engels erhält man von Geburt an. Nicht nur telekinetische Kräfte, auch Telepathie und die Fähigkeit, Menschen zu kontrollieren, obwohl diese Sachen anfangs nicht so offensichtlich-«
Diesmal war die Anspannung in der Stimme des Jungen unverkennbar. »Ich weiß.« Er betrachtete seine Hände. »Ich wußte die ganze Zeit, daß diese verwirrenden Kräfte nur Ärger bedeuten konnten! Wenn ich nur früher die Wahrheit erfahren hätte, dann hätte ich mich niemals…«
»Wenn, wenn…« sagte SEELE-01 trocken. »Die Sitzung ist beendet.«
Daraufhin verschwanden gleichzeitig alle Bildschirme, nur SEELE-01 blieb zurück. Einen Augenblick später verschwanden auch diese Buchstaben. Für einige Sekunden stand der Junge in völliger Dunkelheit. Dann erfüllte ein mattes Licht den höhlenartigen Raum. Der Vorsitzende des Kommittees erschien, hinter einem Schreibtisch sitzend. Er erschien winzig im Vergleich zu dem Monolithen, der kurz zuvor seinen Codenamen SEELE-01 getragen hatte. Die unheilvolle und bedrückende Atmosphäre schien zusammen mit den roten Buchstaben verschwunden zu sein.
Der Junge bedeckte seine Augen mit einer Hand. »Es scheint unmöglich, daß auf Erden noch Andere solchen Schmerz und Kummer wie ich empfinden. Doch nun weiß ich, daß es sie gibt, so viele von ihnen… und ich wünschte, ich wüßte es nicht.« Er ließ die Hand an seine Seite sinken. »Und ich wünschte, Sie wären nicht einer davon. Dann fiele es mir so viel einfacher, Sie zu hassen.«
Lorenz Kihl verzog keine Miene.
Mit lauter Stimme fuhr der Junge fort. »Die Schriftrollen vom Toten Meer haben Ihnen gut gedient. Sie sagten Ihnen, wo sie einen Jungen mit telekinetischen Kräften finden würden, der am Tag des Second Impact geboren wurde. Ha! Alles war vorhergesagt. Sie inszenierten ihren sogenannten Unfall so, daß ich Sie sehen würde. Selbst wenn Sie von dieser Brücke gefallen wären, wäre Ihre metallene Hülle nicht zerbrochen. Sie hätte Sie am Leben erhalten, für wer weiß wie lange… wahrscheinlich bis zum Ende der Zeit. Und so brauchten Sie mich, den siebzehnten Engel, um für Sie ihre armselige Seele zu befreien.«
Er starrte den Cyborg an. Seine roten Augen schienen den Visor des Mannes zu durchbohren, als er zu schreien begann. »Sie habe mich angelogen. Es gab nie einen alten Mann, der blind und müde durch Armenien stolperte. Stattdessen war da ein Mann der gezielt dorthin ging, der wußte, nach was er suchte, um seine eigenen Wünsche zu erfüllen! Egal was es Gott und die menschliche Rasse kosten würde.«
Die Stimme des Jungen erzeugte starke Echos in dem großen Raum. »Sie haben die Äpfel von Ihm gestohlen. Und doch spüren Sie keine Reue ob dieser Entweihung. Und nun soll ich Ihnen helfen!«
Schließlich rührte sich der alte Mann. Langsam hob er seinen Kopf und bewegte seine Lippen, um Worte zu formen. »Du weißt, daß Du-«
»Daß es für mich keinen anderen Weg gibt?« beendete der Junge den Satz. »Ja, natürlich weiß ich das. Ich weiß alles. Ich wurde hereingelegt. Es gibt keinen anderen Ausweg aus dieser Hölle des Wissens, die mir aufgezwungn wurde!«
Der Junge hielt inne. »Ich kann nicht still sein, so wütend wie ich bin. Ich weiß, das es sinnlos ist, die Schuld anderen zu geben, wenn ich selbst dafür verantwortlich bin.«
»Nicht die Wissenschaftlerin?« fragte Lorenz Kihl.
»Nein.« Die Stimme des Jungen war nun leise. »Die arme Frau. Mußten Sie sie so erniedrigen?«
»Ah. Du kennst die Einzelheiten unseres geheimen Verhörs?«
»Geheim oder nicht, ich weiß, daß es armselig war. Ich weiß auch, daß ich Sie armselig und doch bemitleidenswert finde. Daß es Ihr einziger Ausweg war, meine Hilfe zu suchen.«
»Wenn es mir etwas bedeuten würde, was Du von mir denkst,« erklärte Lorenz Kihl, »dann wäre ich heute nicht hier. Du müßtest wissen, daß Deine Worte auf taube Ohren stoßen.«
»So sei es.« Der Junge war traurig. »Es ist nocht nicht zu spät, um umzukehren.«
Lorenz Kihl wischte die Worte ungeduldig beiseite. »Alles was mich interessiert ist, daß Du weißt, was Du tun sollst.«
»Ich verstehe. Doch…« Der Junge hob seinen Kopf, »Ein Wort der Warnung. Auch die durchdachtesten Pläne eines Menschen können scheitern. Seien Sie auf Enttäuschungen vorbereitet. Im schlimmsten Fall werde ich selbst Sie verraten.«
Die Augen des Manns verengten sich hinter seinem metallenen Visor zu Schlitzen. »Das ist ein Risiko das ich eingehen muß.« murmelte er. »Ich habe keine Wahl…«
»Denn ich muß es sein, nicht wahr?« stellte der Junge fest. »Ich wollte mir selbst diese sinnlose Frage in einem Wort stellen, ‚WARUM?‘ Doch ein ‚Warum‘ gibt es garnicht, denn dazu wurde ich geboren. Sie wissen das so gut wie ich. Es war mein Geburtsrecht… so wie es Ihres war, für immer in einem metallenen Käfig zu leben, ohne etwas dagegen tun zu können.«
Sodann nahm der Junge einen bronzenen Gegenstand aus seiner Tasche und hob ihn an seinen Mund. »Ich bin bereit. Wenn sie noch einen Funken Güte in Ihrem Leib haben, dann bitte ich Sie: beten Sie für meine Seele.«
Mit geschlossenen Augen schlug der Junge seine Zähne in die Frucht.
Es war, so würde Lorenz Kihl später daran denken, eines der schönsten Dinge, die er jemals gesehen hatte. Es war eine Verwandlung, eine wundervolle Transzendenz. Ein klagendes Stöhnen entfuhr dem Mund des Jungen als er seine Augen öffnete, die nichts sehen konnten, außer dem Leuchten seines Herrn. Der Apfel fiel aus seiner Hand. Er trotzte den Gesetzen der Gravitation und stieg auf, bis er auf halbem Weg zwischen Boden und Decke schwebte. Dann war da das Geräusch zerreißenden Fleisches, und auf dem Rücken des Jungen erblühten zwei schimmernde Flügel. Es war so erhebend und schön, daß Lorenz Kihl geweint hätte, wenn er noch körperlich dazu in der Lage gewesen wäre.
Dann, in einem kurzen Aufblitzen, war alles wieder schmerzlich normal, und der Junge stand aufrecht in der Mitte des Raums. Langsam öffnete er seine Augen, die schärfer und roter erschienen als zuvor. Lorenz Kihl fehlten die Worte.
»Ich bin nicht länger nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.« murmelte der Engel.
Der alte Mann räusperte sich. »Was sagst Du da?«
Der Junge sah auf. »Hm? Oh, Goethe. In mehr als einem Sinn.«
Sein Gegenüber war überrascht, ließ es sich aber nicht anmerken. »Wenn es Zeit ist-«
»Wenn es Zeit ist, werde ich es wissen, ohne daß Sie mich herrufen. Und ich werde kommen.« Der Junge neigte anmutig seinen Kopf . »Bis dann, Herr Kihl.«
Der alte Mann hustete. Der Junge verursachte ihm ein unbehagliches Gefühl. Mit einer kurzen Geste entließ er ihn.
Sie war noch nicht gegangen, wartete noch auf den Zug, wie der Junge wußte. Lautlos näherte er sich ihr. Ihre schlaffen Schultern und ihre niedergeschlagenen Augen unterstrichen ihren stillen Schmerz.
Dr. Akagi sah ihn nicht an, als sie schließlich seine Schritte hörte. »Es geht mich nichts an, aber ich habe mich gefragt… was sucht ein Junge wie Du im Hauptquartier von SEELE?«
Wie auf ein Stichwort fuhr lärmend der Zug ein. Die zwei stiegen ein und setzten sich einander gegenüber. Der Junge wartete bis der Zug losgefahren war, bis er langsam antwortete. »Es ist nicht nötig, daß Sie das erfahren. Sie würden es bereuen, wenn ich es Ihnen sagen würde.«
»Ach, tatsächlich?« erwiederte Dr. Akagi ruhig. »Wenn Du das sagst, muß ich Dir wohl glauben. Sag,« fuhr sie fort, und drehte ihren Kopf leicht zur Seite, »würdest Du mir etwas von Deinem Wissen abgeben? Mir sagen, was ich tun soll… mich auf den rechten Weg führen?« wiederholte Sie seine Worte von vorher.
»Sie haben sich geirrt.« erklärte der Junge. »Ich habe micht geirrt. Wissen und Leben… sie sind nicht der letztendliche Sinn der Lebens, wie wir glaubten. Am Ende, wenn alles gesagt und getan ist, ist jeder von uns genauso verloren wie am Anfang. Trotz allem muß jeder weitersuchen, denken Sie nicht? Der Tod kommt am Ende, wie es heißt. Und doch haben Leben und Tod den gleichen Wert. Was ist also der Sinn des Lebens?«
»Solltest Du das nicht wissen?« Sie klang leicht amüsiert.
»Ich weiß nicht alles.« stellte der Junge fest. »Nur das, was feststeht.«
»Was siehst Du, das feststeht?« fragte Dr. Akagi.
»Das.. sollten Sie besser auch nicht erfahren.«
Plötzlich richtete sie sich auf. »Ach, komm schon.« sagte sie ungeduldig. »Du mußt doch spüren können, was ich… was ich fragen will!«
Der Junge sah sie regungslos an. »Sie haben doch bestimmt selbst eine Ahnung, was ich bin. Das weiß ich. Schließlich haben Sie durch Ihre Arbeit jeden Tag damit zu tun.«
Dr. Akagi starrte ihn an. »Mein Gott. Du bist nicht wirklich…«
»Was denken sie denn, woher die Unruhe kam, die sie den ganzen Tag verspürten? Unterbewußt erinnerten Sie sich an alles, was Sie herausgefunden hatten, und jede Zelle Ihres Körpers sträubte sich dagegen, mit dem Feind zusammenzuarbeiten! Sie kennen die Legenden, die sich um die Äpfel ranken. Wer immer sie ißt…« Er ließ den Satz in der Luft hängen.
»Du hast… den anderen Apfel schon gegessen.« stellte sie ungläubig fest.
»Zu meinem Unglück, ja.« gab der Junge zu.
Ein Sturm von Gefühlen fegte über ihr Gesicht. Ihr erster Impuls war, aufzustehen und zu schreien.
»Entspannen Sie sich! Ich habe nichts vor, Ihnen etwas anzutun.« beruhigte sie der Junge. »Aber ich denke, es wäre das Beste wenn einer von uns den Zug verläßt… Nein, nein, ich meinte mich selbst, nicht Sie.«
Dr. Akagi hörte auf zu versuchen, die Türen aufzustemmen, und setzte sich müde wieder auf ihren Platz.
Der Junge stand auf und ging zu den Türen. Er blickte durch das Glas, wartete auf den Moment, da der Zug den Tunnel verlassen würde. »Dr. Akagi,« sagte er, und verstummte.
»Was?« fragte sie schroff.
»Jeder wird irgendwann in seinem Leben von jemand Anderem benutzt. Ich weiß wie es ist, benutzt zu werden. Es hängt davon ab, wie man es betrachtet.« Er konnte spüren, wie sie sich anspannte. Er fuhr fort. »Ich lese nicht oft Bücher. Aber ich erinnere mich, daß ich von einer Frau las, die ihrem Mann dafür dankte, daß er sie benutzte.«
»Dumme Frau.« murmelte Dr. Akagi.
»Sie glaubte, das Schlimmste was einem im Leben passieren könnte, wäre niemals von irgend jemandem benutzt zu werden.« erklärte der Junge. »Wie ich sagte, es hängt alles vom Blickpunkt ab, und davon wie man das Wort ‚Benutzen‘ definiert. Aber ich glaube, daß die Frau durchaus recht hatte.«
»Als Sie mich vorhin um Rat baten, darum, daß ich Sie auf den rechten Weg führen solle…« fuhr der Junge fort, »da wollte ich Ihnen sagen, daß sie nicht verzweifeln sollten… Der Tod wird schließlich für uns alle irgendwann kommen. Machen Sie das Beste aus Ihrem Leben, solange Sie können, aber denken Sie an die Folgen, bevor Sie handeln.«
»Ist das… ein Ratschlag an mich?« fragte Dr. Akagi. »Oder eine Warnung?«
»Sie können es als beides sehen.« meinte der Junge. »Und… da ist noch etwas.« Der Junge kämpfte mit den Worten.
»Es… tut mir leid. Wenn ich helfen könnte… würde ich es tun. Wenn ich den Schmerz lindern könnte, würde ich es tun. Wenn ich irgend etwas für Sie tun könnte, ich würde es tun. Aber ich kann nicht die ganze Welt retten. Es gibt jemanden der… mich mehr braucht. Es tut mir leid.«
Er legte seine Finger auf die Türen. Sie öffneten sich mit einem Krachen. Draußen eilten Bäume und Felder vorbei. »Bis dann.« sagte er zu Dr. Akagi. Und dann war er fort.
Erneut versuchte Dr. Akagi, die Klimaanlage zu vergessen. Es schien daß diese, wo immer sie hinging, gegen sie war. Sie hieß die Dunkelheit willkommen, die für ihren schmerzenden Geist eine lindernde Medizin darstellte.
Die Folgen vorhersehen, etwas aus dem Leben machen.
Ha! Was wußte er schon? Er war nur ein Junge!
Er hatte natürlich recht gehabt, aber für sie hatte das Leben nichts mehr zu bieten.
Nun, in ihrer dunklen Arrestzelle, legte sie ihre Hände an die Lippen und flüsterte ein kurzes Gebet in die pechschwarze Stille.
»Viel Glück.« flüsterte sie.
Der Junge betrachtete den See, und sah zu, wie das Spiegelbild der untergehenden Sonne auf der roten Wasseroberfläche schimmerte. Es schien unmöglich, doch der Ausdruck in den Augen des Jungen war sogar noch älter und trauriger als vorher. Waren es wirklich nur ein paar Tage gewesen?
Auf Wiedersehen, Engel der Gebärmutter, Du Ring des Lichts, Almisael.
Auftritt, Engel des Freien Willens, Du verfluchte Seele, Tabris.
Alles was der Junge tun mußte, war zu lächeln, und jeder würde denken, er sei die glücklichste und freundlichste Seele auf Erden.
Ikari Shinji war Nagisa Kaworu so ähnlich, und doch anders. Selbst Ikari Shinji sah seine Mutlosigkeit nicht.
»Ein Lied ist gut! Ein Lied bringt uns Freude.« sagte er, denn er wußte, daß das die Bedeutung eine Liedes für den jungen Ikari war, der unter ihm stand.
Der Junge wußte auch eine Menge anderer Dinge, aber man darf nicht vergessen, daß er noch sehr jung war.
Er starrte die Aufzüge an, einer auf dem Weg nach oben, einer auf dem Weg nach unten, ohne Ende, einfach auf und nieder, rundherum. Das Leben war dem sehr ähnlichn n’est-ce pas?
Der Junge hatte kürzlich die Fähigkeit erworben, viele Sprachen zu sprechen, einschließlich Französisch.
Er ließ sein Gesicht in seine normale Maske sinken.
Ayanami Rei war Nagisa Kaworu so ähnlich, und doch anders. Aber sie sah seine Mutlosigkeit.
»Wir sind gleich.« sagte er, denn er wußte, daß sie das auf eine seltsame, verdrehte Weise waren. Er erkannte das Engelsblut in ihr. Er sah, daß sie menschlicher als er war, und daß sie die Kraft hatte, sich in seine Pläne einzumischen, wenn sie es für nötig hielt.
Der Junge war ein allwissender, allmächtiger, unsterblicher Engel, aber man darf nicht vergessen, daß er noch sehr jung war.
Der Blick des Jungen ruhte auf dem im Koma liegenden Zweiten Kind, während sie bewegungslos auf ihrem sauber bezogenen Bett lag. War es das, was mit einem passierte, wenn man nicht mit den Höhen und Tiefen des Lebens zurecht kam?
Es war gerade Sonnenaufgang. Schwache Lichtstrahlen sickerten durch die geschlossenen Vorhänge und warfen eine sanfte Blässe auf das müde Gesicht des Mädchens.
Es gab hier keinen Grund für den Jungen, seine Sorgen zu verbergen
Souryuu Asuka Langley war Nagisa Kaworu so ähnlich, und doch anders. Aber sie würde es niemals erfahren.
»Ich entschuldige mich, denn ich muß Deinen EVA verwenden. Ich werde ihn nehmen müssen, ohne Dich um Erlaubnis zu fragen.« sagte er, denn er wußte, daß EVA-02 Asuka mehr bedeutete als ihr Leben. »Weißt Du, Ich habe versucht, ihre Seele zu fragen, ob es ihr etwas ausmacht. Aber sie hat geschlafen.«
Die Stimme des Jungen wurde verzweifelt. »Es tut mir leid! Ich… ich will es nicht! Aber ich muß es tun!« Tränen quollen aus seinen Augen und liefen über seine Wangen.
Der Junge war intelligent und mutig genug, dem Schicksal aufrecht zu begegnen, aber man darf nicht vergessen, daß er noch sehr jung war.
Der Junge bereitete sich auf das vor, was er im Begriff war, zu tun.
Er liebte Ikari Shinji, ja. Er liebte die ganze Menschheit in ihrer bitteren Hoffnungslosigkeit. Er liebte Ayanami Rei wegen ihres Engelsbluts, und der Menschlichkeit, die in ihr noch nicht gestorben war. Er liebte Souryuu Asuka Langley weil Shinji sie liebte, und weil sie zu zerbrechlich für dieses Leben war. Er liebte Akagi Ritsuko, die sonst niemand liebte, und ihre Mutter Naoko, die gestorben war, als er zehn war. Er liebte Katsuragi Misato, die er nur kurz gesehen hatte. Er liebte Ikari Gendou, weil er Shinjis Vater war. Der Junge konnte in seinem Herzen sogar etwas Liebe für Lorenz Kihl finden, dessen Schuld alles war.
Doch warum wollte er die Menschheit beenden, trotz seiner großen Liebe?
Eine Berührung! Das war alles, was es brauchte, um den Wirren und Albträumen des unendlichen Wissens in seinem Geist zu entkommen.
Eine Berührung! Um der Last des ewigen Lebens zu entkommen.
Doch was war mit dem Rest der Welt?
Der Junge war ein Engel, aber man darf nicht vergessen, daß er noch sehr jung war. Jugend und Selbstsucht gehen Hand in Hand.
Er ignoierte die Schreie des jungen Ikari hinter sich. Wenn er jetzt weichherzig wäre, würde das gepeinigte Kreischen der ganzen Menschheit bis in alle Ewigkeit in seinen Ohren klingen.
Der Junge schwebte vor der riesigen, siebenäugigen Monstrosität. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf seine Botschaft. Und innerhalb eines Lidschlags flossen Gedanken und Ideen zwischen ihnen wie Elektrizität.
Vater, ich würde gerne nach Hause kommen.
Ich bin nicht Dein Vater.
Du mußt mein Vater sein. Ich weiß alles, und ich weiß, daß Du mein Vater bist.
Du irrst. Du wurdest vom Wissen der Menschen in die Irre geführt. Ich bin nicht Adam. Ich bin der Vorfahr der Lilim, nicht der Engel.
Du bist Lilith! Wie… wie kann das sein?
Du hast es selbst gesagt: Du weißt nicht alles, nur das, was feststeht. Hast Du das schon vergessen?
Aber… aber ich weiß alles!
Es ist nur natürlich, daß Du verwirrt bist. Wie Du kann ich alles sehen. Und ich sehe, daß Dein starker Wunsch, von Deiner Last frei zu sein, Dein Urteilsvermögen getrübt hat. Denk nach. Laß die Klarheit zurückkehren.
Adam? Lilith? Wie-?
Du kannst nur jene Dinge wissen, die unter Dir stehen. Ich stehe über Dir, und so konntest Du nicht erkennen, daß Adam und ich gleich sind, so wie Gott und Sein Sohn gleich sind. Adam wurde aus mir geboren, so wie Jesus aus Gott geboren wurde, und Du aus Adam. Du hast es den Gerüchten der Lilim erlaubt, Deine Gedanken zu führen. Deswegen hast Du mich für Adam gehalten.
Der Junge riß sich zusammen. Adam oder nicht, eine Berührung ist genug, um alles zu beenden. Ich werde es tun.
Er näherte sich dem Wesen, das an das Kreuz genagelt war.
Nein.
Du solltest wissen, daß es zwecklos ist, zu versuchen, mich aufzuhalten.
Das ist es nicht. Alles was Du willst, ist Deiner Qual zu entkommen, ohne den Preis für Andere zu bedenken. Wie unterscheidest Du Dich dann von dem, den Du am meisten haßt?
Was bleibt mir sonst übrig? Ich muß stark sein, und den Schmerz der Anderen ignoieren, sonst verliere ich den Verstand. Es ist mir egal, wie sehr ich mich verändert habe. Nagisa Kaworu gibt es nicht mehr. Ich bin Tabris!
Leider sind alle Söhne Adams so sturköpfig. Aber natürlich kannst Du nicht wissen, daß es einen anderen Weg gibt.
Es gibt einen anderen Weg?
Ich kann Dich vernichten, da die Engel auch von mir abstammen, doch ich habe nicht die Kraft dazu. Glücklicherweise gibt es ein anderes Wesen, das die gleichen Fähigkeiten wie ich hat. Wenn Du dazu bereit bist, kannst Du Dein Leben in seine Hände legen.
Alles. Ich würde alles tun.
Wenn Du Deine Entscheidung getroffen hast, dann sage ich es Dir. Die Antwort, nach der Du suchst, lautet Evangelion. Sie sind Klone von mir. Sie sind die einzigen Wesen, die stark genug sind, einen Sohn Adams zu vernichten.
Evangelion? Aber natürlich…! Schon vierzehn Schlachten, und jedes Mal hat der Evangelion uns besiegt. Aber ich hätte nicht die Frucht der Erkenntnis gebraucht, um das zu wissen! Ich sah viele der Schlachten selbst, versteckt in den Bunkern mit dem Rest der Bevölkerung von Tokyo-3. Wie konnte ich das nicht wissen?
Du hast es ganz einfach nur vergessen. Dieses kleine Stückchen Wissen wurde aus Deinem Engelsgedächtnis gelöscht. Du bist ein Bote Gottes. Wie könnte Er Dir erlauben, zu wissen daß ein Evangelion Dich vernichten kann, wo Du so darauf aus warst, Dich selbst zu vernichten?
Warum sagst Du mir das jetzt?
Ich kann nicht tatenlos zusehen, während Du meine Kinder vernichtest. Dein Tod wird den Tag ihres Untergangs zumindest hinausschieben.
Bist Du denn nicht auch mein Vorfahr?
Ich liebe meine Lilim mehr als ich die verfluchten Abkömmlinge Adams liebe. Lilim tragen das Zeichen des Dämons in sich. Ich muß es bewahren.
Und mein Wunsch nach Selbstzerstörung paßt ganz wunderbar in Deine Pläne.
Du bist argwöhnisch. Aber höre noch einmal die Worte: Es ist der einzige Weg für Dich. Du kannst Dir aussuchen, ob Du ihnen glaubst oder nicht. Letztendlich ist es Deine Wahl.
All dies geschah innerhalb von zwei Sekunden.
Der Junge öffnete seine Augen und sah auf. »Nun verstehe ich.«
Shinji, ich liebe Dich.
Er traf seine Entscheidung.
ENDE
Autor: Tam Ka-Wing (gaurry_gabriev@yahoo.com)
Übersetzung: Michael Borgwardt (borgward@informatik.tu-muenchen.de)
Charaktere bzw. Anregungen aus Shin Seiki Evangelion von Gainax und aus der Geschichte Der Apfel von H.G. Wells wurde ohne Genehmigung verwendet.